Ja, aber- aber bitte doch! @FSK60
Auf Deinem Profil findet sich der Satz:
Ich bin verschleckt, mag Eischreme, lecke nach dem Essen meinen Teller ab, ausser wenn es gar nicht passt.
Wie und nach welchen Kriterien entscheidest Du, dass es gar nicht passt bzw. passt, bzw. zwar nicht ganz passt, aber Du machst es trotzdem? Ich finde beide Aspekte, Tischmanieren und Kleidungsstil, durchaus vergleichbar.
Die Machtfrage mag das eine sein - z.B. hat ein Unternehmen die Macht, einen Dresscode für seinen Verantwortungsbereich festzulegen, an den sich die angestellten Mitarbeiter zu halten haben und, wenn sie dies nicht tun, etwa weil sie dies als Einschränkung ihrer persönlichen Freiheit sehen, müssen sie das Unternehmen verlassen.
Auch Peergroup-Einfluss ist teilweise ausschlaggebend, Du erwähnst selbst die verschiedenen Kulturen und Subkulturen. Je nach Struktur dieser Peergroup wird aber auch dort abweichendes Erscheinen sanktioniert, man denke mal an Rocker-Gruppen, da entscheidet der jeweilige Boss, was "geht" und was nicht und ob eine Rockerbraut "sexy" ist und das "richtige" outfit trägt, oder nicht.
Bleibt noch die Möglichkeit eines "relativen" Werts: nicht provozieren, nicht stören, nicht ärgern, nicht auffallen, keine Probleme machen. Und da, wirder, bin ich der Meinung - ja, aber.
Selbstverständlich ist die Beurteilung ob eine bestimmte Kleidung in einem bestimmten Kontext angemessen sei, individuelle Geschmackksache und stellt oft einen Kompromiss dar. Die Kunst ist, erstens, einschätzen zu können, welches Risiko ich mit "abweichendem Verhalten" in einer bestimmten Situation eingehe und, zweitens, ob ich gewillt und in der Lage bin, die Verantwortung dafür dann auch zu tragen und mit den möglichen Folgen, die das nach sich zieht, zu leben.
Ein ups-Fahrer, der sich weigert, seine Arbeit in Firmenuniform zu verrichten, fliegt. Wenn ihm das Risiko zu groß ist, und er eine Familie zu ernähren hat und grundsätzlich mit dem Job zufrieden ist, wird er sich an die "Corporate Identity-Vorschriften" halten.
Wenn Du eine Frau, die Dir tatsächlich gefällt und die Du für Dich gewinnen willst, zu einem feinen Abendessen in ein edles Restaurant ausführst, wirst Du vermutlich nicht in Shorts und Flipflops erscheinen und auch nicht den Teller ablecken, weil Dir das Risiko, dass sie sich durch dieses absichtlich provokante Verhalten kompromittiert fühlen und Dich keines weiteren Blickes mehr würdigen würde, als zu groß erscheint, zumal wenn Du sie noch nicht näher kennst (und sag jetzt bitte nicht, solche Lokale würdest Du eh nie besuchen, oder wenn Du das tun würdest, allein um zu testen, ob Ihr beide den selben Sinn für Humor habt)!
Und schon sind wir wieder beim ganz persönlichen Stil- und Geschmacksempfinden und der Aussage, dass sich darüber nicht streiten lässt. Nichts anderes habe ich argumentiert. Ob etwas als "sexy outfit" gilt, bzw. als angemessen und positiv gewertet wird, ist nicht alters- sondern kontextabhängig, d.h. abhängig von der spezifischen Situation, dem sozialen Umfeld, in dem ich mich bewege, und dem Anlass, zu dem jenes outfit getragen und von einem definierten Personenkreis, dem ich oder eine Begleitung sich zugehörig fühlen mag, oder aber von dem ich mich, im Gegenteil, durch das gewählte outfit bewusst absetzen möchte, als hinlänglich passend oder unpassend empfunden wird.
Und "nicht stören, nicht ärgern, nicht auffallen, keine Probleme machen" bzw. in's Gegenteil verkehrt: "absichtlich stören, ärgern, auffallen, Probleme machen" - nur zu, es blamiere sich jede/r so gut er/sie kann. Es fragt sich, wem damit gedient ist und in welcher konkreten Art und Weise und aus welchen Beweggründen, sowie mit welchem Ziel, und es fragt sich weiter, ob die jeweilige Aktion /Regelverletzung/Störung mich meinem eigentlichen Ziel tatsächlich näher bringt und wie es mir geht, wenn dies nicht eintrifft. Nur: um eine Situation bewusst kalkulieren und damit gekonnt und möglicher Weise auch provokant spielen zu können, ist es Voraussetzung, dass ich die Regeln kenne und beherrschen gelernt habe, die ich in einem speziellen Kontext gezielt und wissentlich verletze. Ansonsten ist es einfach nur Mangel an Erziehung und schlechtes Benehmen, und fällt mir mit hoher Wahrscheinlichkeit als Bumerang auf die Füße.
Und noch zu Deiner Frage nach der Legitimität von Kleidungsvorschriften:
"Vorschriften" im engen Sinn gibt es heute ja tatsächlich nur noch in Unternehmen, öffentlichen Institutionen (in vielen Ländern ist z.B. das vorgeschriebene Tragen von Schuluniform normal, Polizeiangehörige sind z.B. durch ihre Uniform erkennbar und legitimieren sich damit gegenüber den Bürgern als rechtmäßig Handelnde im Auftrag des Staates).
Ansonsten sind es tatsächlich gesellschaftliche Konventionen, die in meinen Augen das Zusammenleben jedoch durchaus erleichtern, egal ob in einer speziellen Subkultur oder auf ansonsten "unbekannten Terrain". Ich finde es z.B. hilfreich, wenn ich eine Einladung erhalte, auf der der erwartete oder erwünschte Dresscode vermerkt ist. Wenn meine Gastgeber sich ein Fest in formeller Abendkleidung wünschen, steht das bereits auf der Einladung. Das ist in meinen Augen legitim. Es ist dann an mir, zu entscheiden, ob ich diesem Wunsch nachkommen möchte oder nicht. Nicht legitim fände ich es, wenn ein Gast diesen ausdrücklichen Wunsch absichtlich brüskieren würde. Notfalls muss man halt absagen, wenn einem diese Kleiderordnung absolut nicht zusagt oder man die entsprechende Garderobe weder besitzt noch für den Abend leihen kann.
Kürzlich erhielt ich eine Einladung zu einer Trauerfeier anlässlich des tragischen Todes der 24jährigen Tochter von Bekannten, in der ausdrücklich stand, man solle kommen in Kleidung, in der man sich wohlfühle und Blumen aus dem Garten, vom Feld oder Wald und Wiese mitbringen. Ich fand das legitim und für die potenziellen Trauergäste, unter denen sehr sehr viele junge Leute waren, sehr entlastend.